Pflichtteil; Wertermittlung; Veräußerung des Nachlassgegenstandes

Amtlicher Leitsatz:

Dem Anspruch des Pflichtteilsberechtigten auf Wertermittlung gemäß § 2314 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 BGB steht nicht der Umstand entgegen, dass der Nachlassgegenstand vom Erben nach dem Erbfall veräußert wurde.

BGH (IV. Zivilsenat), Urteil vom 29.09.2021 – IV ZR 328/20

BGB § 2314 Abs. 1 S. 2

I. Einführung

Die Klägerin als Pflichtteilsberechtigte nimmt den Beklagten als Erben im Wege der Stufenklage auf Wertermittlung sowie auf Zahlung eines Betrages in nach erfolgter Wertermittlung noch zu bestimmender Höhe in Anspruch. Der Beklagte ist der testamentarische Erbe des im Jahr 2017 verstorbenen Erblassers, die Klägerin ist dessen einzige Tochter.

Die im Jahr 2014 verstorbene G. war Eigentümerin eines Hausgrundstücks. Sie wurde beerbt von dem Erblasser zu 1/2 sowie drei weiteren Miterben zu je 1/6. Der Beklagte und die weiteren Miterben veräußerten das Grundstück Ende 2017 für 65.000 €. In einem Gutachten für eine (im Ergebnis erfolglos verlaufene) Teilungsversteigerung im Jahr 2016 wurde der Grundstückswert mit 245.000 € ermittelt. In einer Bewertung seitens der Volksbank für den Beklagten aus dem Jahr 2017 wurde der Grundstückswert mit 58.000 € bemessen. Ein weiteres im Auftrag der Klägerin erstattetes Gutachten aus dem Jahr 2018 gab den Wert des Grundstücks mit 120.000 € bis 175.000 € an. Der Beklagte zahlte an die Klägerin insgesamt 33.364,63 € auf den Pflichtteil.

Die Klägerin ist der Auffassung, ihr stehe unabhängig von der Veräußerung des Grundstücks ein Anspruch auf Ermittlung des Wertes zum Zeitpunkt des Erbfalles zu.

Das Landgericht hat den Beklagten antragsgemäß verurteilt, den Wert der im Miteigentum des Erblassers stehenden Immobilie durch Vorlage eines Wertgutachtens eines öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen zu ermitteln. Ferner hat es den Beklagten verurteilt, nach erfolgter Wertermittlung an die Klägerin einen Betrag in noch zu bestimmender Höhe nebst Zinsen zu zahlen. Im Berufungsverfahren hat die Klägerin für den Fall, dass das Berufungsgericht den Wertermittlungsanspruch verneint, beantragt, den Beklagten zur Zahlung von 19.284,75 € nebst Zinsen zu verurteilen.

Das Oberlandesgericht hat das landgerichtliche Urteil abgeändert und den Beklagten unter Abweisung der Klage im Übrigen verurteilt, der Klägerin 270,25 € nebst Zinsen zu zahlen. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, der Klägerin stehe gegen den Beklagten kein Anspruch auf Wertermittlung gemäß § 2314 Abs. 1 Satz 2 BGB zu. Es fehle an einem schutzwürdigen Interesse an der Wertermittlung. Dies möge schon aus dem Verkauf der Immobilie folgen, der zeitnah zum Erbfall erfolgt sei. Hierauf komme es aber nicht einmal an. Es lägen bereits drei Bewertungen vor. Diese kämen zwar zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen. An diesem Befund vermöge aber eine vierte Bewertung nichts zu ändern. Es sei nicht sicher, dass der Erwerber die Immobilie besichtigen lasse. Bei der Pflichtteilsberechnung sei daher lediglich auf den Kaufpreis von 65.000 € abzustellen, von dem wegen des Anteils des Erblassers 32.500 € in den Nachlass fielen. Ein höherer Wert sei nicht anzusetzen. Zu berücksichtigen sei darüber hinaus, dass es um den Verkehrswert eines bloßen Eigentumsanteils gehe.

Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr bisheriges Begehren weiter.

II. Problem

Der BGH erachtete die Revision als im Wesentlichen begründet.

Der Klägerin stehe gegen den Beklagten ein Anspruch auf Wertermittlung des Miterbenanteils des Erblassers an dem streitgegenständlichen Grundstück zu. Gemäß § 2314 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 BGB könne der Pflichtteilsberechtigte verlangen, dass der Wert der Nachlassgegenstände ermittelt wird. Der Anspruch diene nicht dazu, für den Pflichtteilsberechtigten und den Erben verbindlich den Wert des Nachlassgegenstandes im Zeitpunkt des Erbfalles gemäß § 2311 BGB festzulegen, sondern soll dem Pflichtteilsberechtigten die Beurteilung des Risikos eines Rechtsstreits über den Pflichtteil erleichtern (vgl. BGHZ 107, 200, 204; OLG Frankfurt am Main ZEV 2011, 379). Der Pflichtteilsberechtigte habe jedenfalls dann ein schutzwürdiges Interesse an einer derartigen Wertermittlung, wenn die vom Erben vorgelegten Unterlagen und Auskünfte nicht ausreichen, sich ein Bild über den Wert des Nachlassgegenstandes zu machen (BGH NJW 1975, 258; Palandt/Weidlich, § 2314 Rn. 14). Ob ein derartiger nach dem Wortlaut von § 2314 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 BGB einschränkungsloser Anspruch in Ausnahmefällen nach Treu und Glauben gemäß § 242 BGB oder wegen Verstoßes gegen das Schikaneverbot gemäß § 226 BGB ausscheidet, wenn bereits mehrere Sachverständigengutachten zu dem Wert des Nachlassgegenstandes eingeholt wurden und zu demselben Ergebnis kamen, könne offenbleiben. Ein derartiger Fall liege hier jedenfalls nicht vor. Angesichts dieser stark differierenden Angaben könne der Klägerin ein schutzwürdiges Interesse an der Geltendmachung des Wertermittlungsanspruchs nicht abgesprochen werden.

Dem Anspruch des Pflichtteilsberechtigten auf Wertermittlung stehe auch nicht der Umstand entgegen, dass der Nachlassgegenstand vom Erben - wie hier seitens des Beklagten hinsichtlich des Grundstücks geschehen - nach dem Erbfall veräußert wurde (OLG Frankfurt am Main ZEV 2011, 379; OLG Düsseldorf FamRZ 1995, 1236, 1238; Palandt/ Weidlich, BGB § 2314 Rn. 14). Dies rechtfertige sich daraus, dass dem Pflichtteilsberechtigten anderenfalls der Nachweis verwehrt bzw. zumindest erschwert würde, dass der Veräußerungserlös nicht dem tatsächlichen Verkehrswert entspricht. Gegen eine Versagung des Wertermittlungsanspruchs in Fällen der nachträglichen Veräußerung eines Nachlassgegenstandes spreche ferner, dass ausweislich der Regelung in § 2314 Abs. 2 BGB die Kosten für die Auskunftserteilung und Wertermittlung nach Absatz 1 dem Nachlass zur Last fallen, während der Pflichtteilsberechtigte, der im Rahmen von § 2311 Abs. 1 Satz 1 BGB einen anderen Verkehrswert als den tatsächlichen Veräußerungserlös behauptet, insoweit darlegungs- und beweispflichtig sei und damit auch die entsprechenden für die Wertermittlung erforderlichen Kosten zu tragen habe.

Nichts anderes ergebe sich im Streitfall, wenn man der vereinzelt im Schrifttum vertretenen Auffassung folge, nach Veräußerung eines Nachlassgegenstandes komme grundsätzlich kein Wertermittlungsanspruch mehr in Betracht, es sei denn, es lägen außergewöhnliche Umstände vor, zu denen konkrete Anhaltspunkte zählen sollen, dass der erzielte Verkaufserlös nicht dem tatsächlichen Wert entspricht (so Fleischer, ErbR 2013, 242, 244). Derartige Umstände würden hier - anders als das Berufungsgericht meint - angesichts der unterschiedlichen Wertangaben in den Gutachten und dem davon abweichenden erzielten Kaufpreis sowie der von der Klägerin geäußerten Vermutung einer unter dem Verkehrswert erfolgten Veräußerung des Grundstücks vorliegen.

Dem stehe auch nicht die Rechtsprechung des Senats zur Wertbemessung gemäß § 2311 Abs. 1 Satz 1 BGB entgegen. Hiernach werde bei der Berechnung des Pflichtteils der Bestand und der Wert des Nachlasses zur Zeit des Erbfalles zugrunde gelegt. Der Pflichtteilsberechtigte sei wirtschaftlich so zu stellen, als sei der Nachlass beim Tod des Erblassers in Geld umgesetzt worden. Abzustellen sei auf den so genannten gemeinen Wert, der dem Verkaufswert im Zeitpunkt des Erbfalles entspreche. Da derartige Schätzungen mit Unsicherheiten verbunden sind, entspreche es ständiger Rechtsprechung des Senats, dass sich die Bewertung von Nachlassgegenständen, die bald nach dem Erbfall veräußert worden sind, von außergewöhnlichen Verhältnissen abgesehen, grundsätzlich an dem tatsächlich erzielten Verkaufspreis orientieren müsse (BGH ZEV 2015, 349 Rn. 4; ZEV 2011, 29 Rn. 5). Diese Rechtsprechung beziehe sich indessen nicht auf die erste Stufe der Pflichtteilsklage hinsichtlich Auskunft und Wertermittlung gemäß § 2314 Abs. 1 BGB, sondern auf die konkrete Berechnung des Pflichtteilsanspruchs auf der dritten Stufe im Rahmen von § 2311 Abs. 1 Satz 1 BGB (so auch zutreffend OLG Frankfurt am Main ZEV 2011, 379). Der Wertermittlungsanspruch gemäß § 2314 Abs. 1 Satz 2 BGB diene dagegen - wie oben dargelegt - gerade nicht der verbindlichen Festlegung des Wertes des Nachlassgegenstandes im Rahmen von § 2311 BGB, sondern der vorläufigen Unterrichtung des Pflichtteilsberechtigten zur Berechnung seines Anspruchs und der Beurteilung des Risikos eines Rechtsstreits. Im Übrigen sei in der Senatsrechtsprechung auch im Rahmen von § 2311 Abs. 1 Satz 1 BGB anerkannt, dass eine Bindung an den tatsächlich erzielten Verkaufspreis dann nicht mehr in Betracht komme, wenn der darlegungs- und beweispflichtige Pflichtteilsberechtigte Tatsachen vortrage und unter Beweis stelle, nach welchen der Verkaufserlös nicht dem tatsächlichen Verkehrswert im Zeitpunkt des Erbfalles entspricht (BGH ZEV 2015, 349 Rn. 6; ZEV 2011, 29 Rn. 7). Derartige Umstände habe die Klägerin hier im Hinblick auf die vorgelegten Sachverständigengutachten, die erheblich vom Veräußerungserlös abweichen, vorgetragen.

Der Klägerin stehe allerdings nicht der von ihr geltend gemachte und vom Landgericht tenorierte Anspruch auf Ermittlung des Wertes der Immobilie durch Vorlage eines Wertgutachtens eines öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen zu. Die Qualifikation des Sachverständigen sei in § 2314 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 BGB nicht geregelt. Maßgebend sei allein, dass der Wert des Nachlassgegenstandes durch einen unparteiischen Sachverständigen ermittelt werde, unabhängig davon, ob er öffentlich bestellt und vereidigt ist oder nicht (vgl. BGH NJW 1975, 258; MüKo-BGB/Lange, § 2314 Rn. 21). Ferner habe die Klägerin keinen Anspruch auf Ermittlung des Wertes des Grundstücks als solchem. Dieses stand im Eigentum einer Erbengemeinschaft, an der der Erblasser mit einem Anteil von 1/2 beteiligt war. Nur dieser Anteil des Erblassers an der Erbengemeinschaft falle in den Nachlass, so dass sich auch der Wertermittlungsanspruch nur hierauf erstrecken könne.

Insoweit hatte die Berufung des Beklagten Erfolg und der weitergehende Klagantrag war abzuweisen.

III. Fazit

Die Wertermittlung stellt oftmals einen zentralen Streitpunkt zwischen den Erben und Pflichtteilsberechtigten dar.  

Der der Entscheidung zugrunde liegende Fall kommt in der Praxis häufig vor: der zum Nachlass gehörende Gegenstand wurde bereits veräußert und es liegen eine Vielzahl von widersprüchlichen Werteinschätzungen vor.

Der Bundesgerichtshof stellt vorliegend klar, dass der Pflichtteilsberechtigte auch dann einen Anspruch auf Wertermittlung gemäß § 2314 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 BGB hat, wenn der Nachlassgegenstand vom Erben inzwischen veräußert wurde. Nur ausnahmsweise kann ein solcher Anspruch nach Treu und Glauben gemäß § 242 BGB oder wegen Verstoßes gegen das Schikaneverbot gemäß § 226 BGB ausgeschlossen sein.

Daneben nutzt das Gericht auch die Gelegenheit zu weiteren Erläuterungen und dem Verhältnis zu seiner Rechtsprechung zur Wertbemessung gemäß § 2311 Abs. 1 Satz 1 BGB.


Rezension des Urteils des BGH  v. 29.09.2021 - IV ZR 328/20 - OLG Dresden; „Pflichtteil / Wertermittlung / Veräußerung des Nachlassgegenstandes", in: FuR - Familie und Recht - Zeitschrift für Fachanwalt und Familiengericht, Nr. 2 Februar 2022, S.108 f


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