Irrtum über Bestand des Nachlasses / Verjährung einer Forderung

Leitsatz:

  1. Die falsche Vorstellung eines Erben, eine gegen den Nachlass gerichtete Forderung sei verjährt, betrifft die Zusammensetzung des Nachlasses hinsichtlich seines Bestandes an Aktiva und Passiva. (amtlicher Leitsatz)
  2. Insoweit liegt ein Irrtum des Erben über eine verkehrswesentliche Eigenschaft des Nachlasses vor, wenn nach Durchführung eines Zivilverfahrens feststeht, dass die Forderung entgegen der Vorstellung des Erben nicht verjährt ist, und sich der Nachlass nunmehr als überschuldet erweist. (amtlicher Leitsatz)

OLG München, Beschluss vom 28.07.2015 - 31 Wx 54/15

BGB §§ 119 Abs. 2, 1954, 1956

I. Einführung

Der Erblasser war in zweiter Ehe mit der Beteiligten zu 1) verheiratet. Aus der Ehe ging der Beteiligte zu 2) hervor. Die Beteiligten zu 3), 4) und 5) sind die Kinder des Erblassers aus erster Ehe. Der Beteiligte zu 3) ist nach dem Erblasser verstorben.

Die Beteiligten zu 1) und 2) waren seit August 2012 über ihr Erbrecht informiert. Die Beteiligten zu 3), 4) und 5) wurden im September 2012 von dem Nachlassgericht über ihre Miterbenstellung in Kenntnis gesetzt. Eine ausdrückliche Annahme der Erbschaft von den Beteiligten zu 3), 4) und 5) erfolgte nicht.

Im März 2013 beantragte die Beteiligte zu 1) einen Erbschein aufgrund gesetzlicher Erbfolge, welcher am gleichen Tag durch das Nachlassgericht erteilt wurde. Die weiteren Erben erhielten am 27.03.2013 eine Abschrift des Erbscheins.

Am 22.05.2014 gingen beim Nachlassgericht Ausschlagungs- bzw. Anfechtungserklärungen der Beteiligten zu 3), 4) und 5) ein. Die Anfechtung wurde darauf gestützt, dass erst infolge des Urteils des Landgerichts Ingolstadt vom 10.04.2014 geklärt wurde, dass der Nachlass mit einer Darlehensschuld belastet ist. Nach der Klageschrift vom 22.10.2013, die die Beteiligte zu 4) im Rahmen der sog. „actio pro socio“ für die Erbengemeinschaft bei dem Landgericht Ingolstadt einreichte, vertraten die Beteiligten zu 3), 4) und 5) die Auffassung, dass die Darlehensforderung verjährt sei. Die Beteiligte zu 1) ist der Meinung, dass sie die Beteiligten zu 3),4) und 5) bereits mit Schreiben vom 22.09.2012, in dem auch das Darlehen aufgeführt sei, von der Überschuldung des Nachlasses in Kenntnis gesetzt hatte.

Mit Beschluss lehnte das Nachlassgericht die Einziehung des Erbscheins mit der Begründung ab, die Anfechtung sei unwirksam, da die 6-monatige Anfechtungsfrist abgelaufen sei. Die Anfechtenden hätten bereits mit dem Schreiben der Beteiligten zu 1) Kenntnis von der Überschuldung erlangt. Insoweit seien den Anfechtenden die Verbindlichkeiten dem Grunde nach bekannt gewesen. Ein die Anfechtung begründender Irrtum läge nicht vor, wenn die von Anfang an bekannten Verbindlichkeiten lediglich nachträglich anders bewertet würden. Hiergegen wenden sich die Beteiligten zu 4) und 5).

II. Problem

Die Beschwerde der Beteiligten hatte in der Sache Erfolg. Zu Unrecht war das Nachlassgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass die Voraussetzungen für die Einziehung des Erbscheins nicht vorliegen.

Nach Ansicht des Gerichts haben die Beteiligten zu 4) und 5) sowie der mittlerweile verstorbene Beteiligte zu 3) jeweils wirksam die Annahme der Erbschaft infolge „Versäumung der Ausschlagungsfrist“ wegen Irrtums über die Überschuldung des Nachlasses angefochten und die Erbschaft nach dem Erblasser aus allen Berufungsgründen ausgeschlagen. Insoweit habe die Ausschlagungserklärungen der Beteiligten deren Erbenstellung gemäß § 1953 Abs. 1 und 2 BGB rückwirkend beseitigt.

Hinsichtlich des hier geltend gemachten Anfechtungsgrundes (Überschuldung des Nachlasses aufgrund einer Darlehensschuld) komme nur ein Irrtum über verkehrswesentliche Eigenschaften einer Sache gemäß § 119 Abs. 2 BGB in Betracht.

Dabei sei als „Sache“ im Sinne dieser Vorschrift im Rahmen der Anfechtung gemäß §§ 1954, 1956 BGB die Erbschaft anzusehen, d. h. der dem Erben angefallene Nachlass oder Nachlassteil. Insoweit sei allgemein anerkannt dass die Überschuldung der Erbschaft eine verkehrswesentliche Eigenschaft gemäß § 119 Abs. 2 BGB darstellt, die zur Anfechtung der Annahme der Erbschaft berechtigen kann (BGH NJW 1989, 2885; BayObLG NJW 2003, 216, 221 m. w. N.). Ein Anfechtungsgrund sei aber nur dann gegeben, wenn der Irrtum bezüglich der Überschuldung des Nachlasses auf falschen Vorstellungen hinsichtlich der Zusammensetzung des Nachlasses, hinsichtlich des Bestands an Aktiva oder Passiva, beruht. Dagegen könnten eventuelle Fehlvorstellungen über den Wert der zum Nachlass gehörenden Gegenstände die Anfechtung der Annahme oder Ausschlagung nicht begründen, da der Wert der Nachlassgegenstände oder des Nachlasses als solcher keine verkehrswesentliche Eigenschaft im Sinne des von § 119 Abs. 2 BGB darstellt (BayObLG NJW 2003, 216, 221 m. w. N.). Eine Überschuldung des Nachlasses könne aber auch dann anzunehmen sein, wenn es um die Belastung des Nachlasses mit wesentlichen Verbindlichkeiten geht, deren rechtlicher Bestand ungeklärt ist (BGH NJW 1989, 2885 betreffend Wirksamkeit eines Vermächtnisses; Najdecki in: Burandt/Rojahn Erbrecht, § 1954 Rn. 11). Zu den wertbildenden Faktoren der Erbschaft gehöre auch, mit welchen Nachlassverbindlichkeiten diese belastet ist (MüKoBGB/Leipold, § 1954 Rn. 14).

Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze liege, in Bezug auf die von den Beschwerdeführerinnen vorgebrachte Fehlvorstellung betreffend die Überschuldung des Nachlasses, selbst dann ein Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft im Sinne des § 119 Abs. 2 BGB vor, wenn sie bereits mit Schreiben vom 22.9.2013 von dem Bestehen des Privatdarlehens durch die Beteiligte zu 1) in Kenntnis gesetzt wurden. Dieses Darlehen war Gegenstand der von der Beteiligten zu 4) für die Erbengemeinschaft erhobenen Feststellungsklage. Darin vertrat die Erbengemeinschaft die Auffassung, dass die Darlehensforderung samt Zinsen aufgrund der von der Erbengemeinschaft ausdrücklich erhobenen Einrede verjährt sei. Die Beteiligten zu 3), 4) und 5) hätten somit bis zur Zustellung des Urteils des Landgerichts Ingolstadt vom 10.4.2014 an die Prozessbevollmächtigten der Beteiligten zu 4) am 22.4.2014 die Vorstellung gehabt, dass die Darlehensforderung mangels Durchsetzbarkeit keine Verbindlichkeit des Erblassers darstellt und insoweit nicht als Passivum Bestandteil des Nachlasses ist. Entgegen der Auffassung des Nachlassgerichts sei die Fehlvorstellung der Beteiligten keine „nachträglich andere Bewertung einer von Grunde an bekannten Verbindlichkeit“ infolge der Entscheidung des Landgerichts Ingolstadt, sondern betreffe einen Irrtum darüber, dass die Forderung überhaupt eine Nachlassverbindlichkeit darstellt und damit den Nachlass belastet.

Die von den Beteiligten behauptete Überschuldung des Nachlasses sei somit zutreffend.

An der Ursächlichkeit des Irrtums bestünden keine vernünftigen Zweifel. Aus der Anfechtung nach der Zustellung des Urteils des Landgerichts Ingolstadt ergebe sich, dass sie die Erbschaft bei früherer Kenntnis sofort ausgeschlagen hätten. Angesichts der Überschuldung des Nachlasses war deren Irrtum auch in objektiver Hinsicht erheblich.

Die sechswöchige Anfechtungsfrist im Sinne des § 1954 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 BGB sei somit gewahrt. Anhaltspunkte dafür, dass die Beteiligten bereits vor Zustellung Kenntnis von der am 10.4.2014 verkündeten Entscheidung des Landgerichts hatten, lägen nicht vor.

Insoweit erwies sich die in dem Erbschein vom 22.03.2013 ausgewiesene Erbfolge, in dem die Beteiligten zu 3), 4) und 5) als Erben genannt sind, als unrichtig. Demgemäß war das Nachlassgericht anzuweisen, den Erbschein einzuziehen.

III. Fazit

Wird die Ausschlagungsfrist bzgl. einer Erbschaft versäumt, so ist zu prüfen, ob nicht eine Anfechtung der Annahme der Erbschaft in Frage kommt.

Die vorliegende Entscheidung beschäftigt sich mit den zu einer solchen Anfechtung berechtigenden Gründen.  Der Irrtum darüber, ob eine Forderung überhaupt eine Nachlassverbindlichkeit darstellt und damit den Nachlass belastet, kann einen solchen Grund darstellen. Das OLG München stellt vorliegend dar, dass diese Unklarheit auch aus dem falschen Glauben, eine gegen Nachlass gerichtete Forderung sei verjährt, herrühren kann. Ein solcher Irrtum betrifft gerade die Zusammensetzung des Nachlasses hinsichtlich seines Bestandes an Aktiva und Passiva und kann bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen zur Anfechtung berechtigten.

Stellt sich heraus, dass die Forderung nicht verjährt ist, so  geht es gerade nicht um die bloße nachträgliche abweichende Bewertung einer von Grunde an bekannten Verbindlichkeit.


Rezension des Beschlusses des OLG München v. 28.07.2015 - 31 Wx 54/15  „Irrtum über Bestand des Nachlasses / Verjährung einer Forderung"in: FuR - Familie und Recht - Zeitschrift für Fachanwalt und Familiengericht, Nr.4 April 2016, S.253 f

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