Genehmigungsfreiheit; Ausschlagung der Erbschaft nach § 1643 Abs. 2 S. 2 BGB

Leitsatz:

Die Vorschrift des § 1643 Abs. 2 Satz 2 BGB ist auch im Fall einer selektiven bzw. lenkenden Ausschlagung der Erbschaft durch die Sorgeberechtigten für den Minderjährigen nicht teleologisch zu reduzieren. (nichtamtlicher Leitsatz)

OLG Hamm (11. Senat für Familiensachen), Beschluss vom 28.06.2018 - II- 11 WF 112/18

BGB § 1643 Abs. 2 S. 2

I. Einführung

Der im Jahre 2003 geborene Antragsteller erstrebt zwecks Vorlage bei der Nachlassabteilung des Amtsgerichts eine Bescheinigung, dass die von seinen sorgeberechtigten Eltern für ihn erklärte Erbausschlagung nach seinem Großvater keiner Genehmigung bedarf.

Der Antragsteller ist der Enkel des Erblassers. Der Erblasser errichtete keine Verfügung von Todes wegen. Seine Ehefrau war vorverstorben. Er hinterließ zwei Kinder, nämlich zum einen den Vater des Antragstellers und zum anderen seine Tochter Z. Der Antragsteller ist das einzige Kind seiner Eltern.

Vor seinem Tod hatte der Erblasser dem Vater des Antragstellers ein mit einem Haus bebautes Grundstück schenkweise übertragen. Eine ähnliche Schenkung an seine Tochter unterblieb. Der Erblasser hatte die Absicht, das andere ihm gehörende Grundstück seiner Tochter zuzuwenden, um seine beiden Kinder gleichmäßig zu bedenken. Vor seinem unerwarteten Ableben fand er hierzu keine Gelegenheit mehr. Der Nachlass besteht im Wesentlichen aus diesem weiteren Grundstück.

Der Vater des Antragstellers möchte dem Willen des Erblassers zur Geltung verhelfen. Er und die gesamte Familie empfänden es als ungerecht, wenn er zusätzlich zu dem bereits zu Lebzeiten des Erblassers erhaltenen Hausgrundstück auch noch zur Hälfte an der weiteren Immobilie beteiligt würde. Um Schenkungssteuern in nicht unerheblicher Höhe zu ersparen, sah er davon ab, die Erbschaft anzunehmen und seinen hälftigen Anteil an der Immobilie seiner Schwester zu schenken. Vielmehr schlug er zunächst für sich und sodann gemeinsam mit seiner ebenfalls sorgeberechtigen Ehefrau auch für den Antragsteller die Erbschaft aus.

Die Schwester des Vaters des Antragstellers beantragte sodann, ihr einen Erbschein zu erteilen, durch den sie als alleinige Erbin nach ihrem Vater ausgewiesen werde. Das Nachlassgericht wies darauf hin, dass es eine familiengerichtliche Genehmigung der Ausschlagung für den minderjährigen Antragsteller für erforderlich halte.

Das Amtsgericht hat das beantragte Negativattest abgelehnt und die hilfsweise beantragte familiengerichtliche Genehmigung verweigert. Es ist von einer Genehmigungspflicht ausgegangen.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Beschwerde des Antragstellers, mit der er seine erstinstanzlichen Anträge weiterverfolgt.

II. Problem

Die Beschwerde des Antragstellers wurde vom OLG Köln als zulässig und begründet erachtet. Der Senat erachtete die Ausschlagung der dem Antragsteller angefallenen Erbschaft durch seine Eltern nach § 1643 Abs. 2 Satz 2 BGB als genehmigungsfrei.

  • 1643 Abs. 2 Satz 1 BGB bestimme, dass die Eltern für die Ausschlagung einer Erbschaft für das Kind einer Genehmigung des Familiengerichts bedürfen. § 1643 Abs. 2 Satz 2 BGB treffe eine hiervon abweichende Regelung für den Fall, dass die Erbschaft dem Minderjährigen erst infolge der Ausschlagung eines sorgeberechtigten Elternteils angefallen ist. Dann bedürfe es der familiengerichtlichen Genehmigung nicht. Etwas anderes – also die Genehmigungsbedürftigkeit – gelte wiederum nur dann, wenn der Elternteil neben dem Kind berufen war.

Vorliegend seien die Voraussetzungen für die Genehmigungsfreiheit erfüllt. Die Erbschaft sei zunächst dem Vater des Antragstellers angefallen. Dieser sei sorgeberechtigt. Der Antragsteller sei nicht neben seinem Vater zum Erbe berufen gewesen, sondern ihm sei die Erbschaft erst aufgrund der Erbausschlagung seines Vaters angefallen.

Der Senat sah vorliegend keinen Anlass, von dem Wortlaut des § 1643 Abs. 2 Satz 2 BGB abzuweichen.

Zwar werde vielfach in der obergerichtlichen Rechtsprechung und der Literatur (etwa Coester in Staudinger/Heilmann, § 1643 Rn. 38 f. MüKoBGB/Huber, § 1643 Rn. 23 ff.; offen lassend Veit in BeckOK, § 1643 Rn.11.1) vertreten, dass es eine teleologische Reduktion des § 1643 Abs. 2 Satz 2 BGB gebiete, in bestimmten Fällen die Erbausschlagung für das minderjährige Kind für genehmigungspflichtig zu halten, obgleich ihm die Erbschaft erst aufgrund der Ausschlagung seines sorgeberechtigten Elternteils zugefallen ist.

Dies solle namentlich der Fall sein, wenn ein Elternteil die testamentarische Erbschaft für sich und sein Kind ausschlägt, um den gesetzlichen Erbgang zu ermöglichen, bei welchem er selbst und weitere Verwandte, nicht jedoch sein Kind, als Erben zum Zuge kommen (so OLG Frankfurt NJW 1955, 466). Des Weiteren solle im Fall der sog. selektiven Erbausschlagung eine Genehmigung erforderlich sein (so etwa OLG Hamm, NJW-RR 2014, 779; KG, Beschluss vom 13.03.2012 – 1 W 747/11).

Demgegenüber werde anderweitig sowohl in der obergerichtlichen Rechtsprechung, als auch in der Literatur (z.B. Sagmeister ZEV 2012, 121) eine andere Auffassung vertreten.

Der teleologischen Reduktion werde entgegengehalten, dass bereits fraglich sei, ob der Gesetzgeber die als Ausnahme angenommenen Sachverhalte nicht bedacht habe. Nach den Motiven habe er gerade verhindern wollen, dass die Gerichte den Wert eines Nachlasses prüfen. Zum einen habe er dabei ihre Entlastung vor Augen gehabt. Zum anderen habe er befürchtet, dass die Gerichte allzu leicht die Genehmigung verweigern, um sich der Prüfung des Nachlasses und der damit verbundenen Verantwortung zu entziehen. Durch Einführung des Gesamtvertretungsgrundsatzes sei der Schutz des Kindes noch einmal dadurch verstärkt worden, dass auch der andere Elternteil der Ausschlagung zustimmen müsse. Dann bestehe aber kein weiteres Schutzbedürfnis. Auch bei einer selektiven Ausschlagung sei das Kind, für das die Ausschlagung erklärt werde, nicht rechtlich benachteiligt. Denn der Elternteil habe ebenso gut die Erbschaft annehmen und anderweitig hierüber verfügen, sie insbesondere dem einen Kind vorenthalten und dem anderen zuwenden, können. Die mehreren, selektiven Ausschlagungen würden damit lediglich einen einfacheren Weg darstellen (Sagmeister ZEV 2012 121, 124 f.).

Ferner werde hervorgehoben, dass der Kreis der genehmigungspflichtigen Geschäfte aus Gründen der Rechtssicherheit nicht wegen der Umstände des Einzelfalls durch eine analoge Gesetzesanwendung erweitert werden könne (OLG Frankfurt, FamRZ 2012, 664; OLG Köln, DNotZ 2012, 855).

Der vorliegende Fall lasse sich unter eine selektive bzw. lenkende Ausschlagung subsumieren, die die bislang überwiegende Ansicht für genehmigungspflichtig halte.

Zwar hätten die Eltern des Antragstellers nicht zwischen mehreren Kindern unterschieden. Der Antragsteller sei ihr einziges Kind. Gleichwohl bestünde das Ziel der Erbausschlagungen darin, das Erbe auf die Schwester des Vaters umzuleiten. Richtig sei zwar, dass dies geschehen sei, um dem Willen des Erblassers Genüge zu tun und den Familienfrieden zu erhalten. Gleichwohl werde der Nachlass durch die Ausschlagungen gelenkt und umgeleitet. Es sei auch nicht einsichtig, weshalb nur im Falle der Ausschlagung für ein Kind bei gleichzeitiger Annahme der Erbschaft für ein anderes Kind von einer „selektiven“ Ausschlagung die Rede sein soll. Werde infolge der Ausschlagung des werthaltigen Nachlasses entsprechend dem Willen der Eltern eine andere Person als das minderjährige Kind Erbe, steht stets eine Selektion im Raum.

Der Senat schloss sich indessen der Auffassung an, dass § 1643 Abs. 2 Satz 2 BGB im Falle einer lenkenden Erbausschlagung nicht im Wege einer teleologischen Reduktion gegen seinen Wortlaut auszulegen ist.

Die Voraussetzungen für eine solche teleologische Reduktion würden nicht vorliegen. Dies setzt eine verdeckte Regelungslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes voraus. Vorliegend lasse sich den Gesetzesmaterialien nicht entnehmen, dass der Gesetzgeber nicht wollte, dass durch die Ausschlagung des Elternteils für sich und für sein minderjähriges Kind ein werthaltiger Nachlass einer anderen Person zugutekommt. Auch dem Wortlaut der Motive zum BGB lasse sich nichts anderes entnehmen. Dabei entspreche der heutige § 1643 Abs. 1 BGB dem Entwurf des damaligen § 2043 BGB. Der heutige § 1643 Abs. 2 BGB sei im Wesentlichen mit dem Entwurf des damaligen § 2044 BGB inhaltsgleich.

Es sei zwar in der Gesetzesbegründung davon die Rede, es bestehe im Falle der Genehmigungspflicht die Gefahr, dass selbst bei einer Insolvenz des Nachlasses die Ausschlagung für das Kind gerichtlich verweigert werden könnte. Die wirtschaftliche Werthaltigkeit des Nachlasses habe jedoch nicht den tragenden Grund dargestellt. Dieser bestehe vielmehr darin, dass die Erbschaft für den Berufenen mutmaßlich ohne Vorteil sein werde, da auch der zuvor berufene Elternteil ein Interesse an der Erbschaft und nicht leichtfertig ohne Prüfung der Sachlage entschieden habe. Soweit es um den Vorteil gehe, der nach Einschätzung des zunächst zum Erben berufenen Elternteils nicht besteht, werde nicht darauf abgestellt, dass es sich um einen wirtschaftlichen Vorteil handeln muss. Gerade weil nach den Motiven für die Genehmigungsfreiheit auch streite, dass dem Sorgeberechtigten andernfalls aus einer widerwilligen Annahme Last und Mühe erwachsen und dies das Verhältnis zum Kind verschlechtern könnte, werde deutlich, dass auch ideelle, nicht am Geldwert des Nachlasses orientierte Erwägungen eine Rolle spielen dürfen.

Ferner sei zu bedenken, dass sich der Gesetzgeber im Jahr 1979 zuletzt noch einmal mit § 1643 Abs. 2 Satz 2 BGB befasst habe. Er habe die Vorschrift dem neu eingeführten Gesamtvertretungsrecht beider Eltern angepasst. In der BT-Drucks. 8/2788 heißt es dazu weiter, dass dann, wenn beide Elternteile für das Kind ausschlagen, davon ausgegangen werden könne, dass eine Benachteiligung des Kindes auch dann nicht zu besorgen sei, wenn die Erbschaft dem Kind lediglich durch die Ausschlagung eines der Elternteile anfalle.

Der Gesetzgeber habe die Vorschrift somit nicht geändert, obgleich bereits Entscheidungen wie die des OLG Frankfurt aus dem Jahr 1954 ergangen waren, wonach das Gesetz gegen seinen Wortlaut auszulegen sei.

Gegen eine Auslegung, die dem klaren Wortlaut widerspricht, sei ferner einzuwenden, dass die Rechtssicherheit und Rechtsklarheit es erfordern, das Gesetz seinem Wortlaut gemäß anzuwenden. Zudem gebiete die Sicherheit des Rechtsverkehrs eine klare Regelung auch deshalb, weil sich der Elternteil, dem eine Erbschaft angefallen ist und der sich mit dem Gedanken trägt, diese auszuschlagen, in Zeitnot befinden würde.

Sollte die Bestimmung der Genehmigungsfreiheit allgemein für grob unbillig gehalten werden, wäre es Sache des Gesetzgebers, die Bestimmung zu ändern und eine andere Regelung einzuführen.

Auch nach Sinn und Zweck der Vorschrift sei nicht zu erkennen, dass der Minderjährige, für den die Ausschlagung erklärt wird, eines besonderen Schutzes bedürfe.

Die Genehmigungsfreiheit betreffe ausschließlich den Fall, dass das Kind nur deshalb Erbe wird, weil ein Elternteil zuvor für sich die Erbschaft ausgeschlagen hat. Hätte der Elternteil die Erbschaft angenommen, hätte das Kind keinerlei Anspruch darauf erworben. Der Elternteil hätte das ererbte Vermögen ebenso gut an andere Personen verschenken können. Gerade das mache einsichtig, dass der betreffende Elternteil dann – gemeinsam mit dem anderen sorgeberechtigten Elternteil – auch für das Kind genehmigungsfrei die Erbschaft ausschlagen kann. Er könne nicht gezwungen werden, stattdessen die Erbschaft anzunehmen und sie dann zu verschenken, was häufig erhebliche Schenkungssteuern auslöse.

Die Argumentation, die Lenkung der werthaltigen Erbschaft auf andere Personen sei derart gravierend, dass sie genehmigungspflichtig sei, überzeuge vor diesem Hintergrund nicht.

Im Übrigen bedeute der Umstand, dass die Eltern durch die Zuleitung der Erbschaft nur auf eines ihrer Kinder diese einem anderen Kind vorenthalten, für sich genommen noch längst nicht, dass sie dieses Kind schlechter stellen. Womöglich haben sie auf andere Weise einen Ausgleich geschaffen. Aber selbst wenn eine gezielte Benachteiligungsabsicht bestehen sollte, hätten sie die Möglichkeit hierzu ebenfalls, wenn der zunächst zum Erbe berufene Elternteil die Erbschaft angenommen hätte. Denn dann hätte er das Vermögen anschließend ebenso nur einem seiner Kinder schenken können.

III. Fazit

Die Frage, ob im Falle einer sog. lenkenden oder selektiven Erbausschlagung eine teleologische Reduktion der Vorschrift des § 1643 Abs. 2 Satz 2 BGB vorgenommen, und damit eine Genehmigungspflicht angenommen werden muss, ist seit geraumer Zeit in der Rechtsprechung und Literatur umstritten.

Das OLG Hamm vertritt vorliegend, entgegen der wohl bisher überwiegenden Meinung in der Rechtsprechung und Literatur, die Ansicht, dass die Vorschrift wortlautgetreu anzuwenden ist, und kein Raum für eine teleologische Reduktion besteht. Die Entscheidung ist ausführlich und fundiert begründet, wobei sowohl Sinn und Zweck, als auch der gesetzgeberische Wille, gegen eine teleologische Reduktion sprechen. Es bleibt zu hoffen, dass sich in der Rechtsprechung zukünftig eine klarere Linie herausbildet. In der Zwischenzeit führt die Regelung zu einer gesteigerten Rechtsunsicherheit in der Praxis.

 


Rezension des Beschlusses des OLG Hamm v. 28.06.2018 - 11 WF 112/18 „Genehmigungsfreiheit / Ausschlagung der Erbschaft nach § 1643 Abs. 2 Satz 2 BGB", in: FuR - Familie und Recht - Zeitschrift für Fachanwalt und Familiengericht, Nr.11 November 2018, S.618 ff


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