Ersatzerbfolge; Wegfall des Schlusserben; Ermittlung des gemeinsamen Willens
Leitsätze:
- Bei der Ermittlung des gemeinsamen Willens der Ehegatten, betreffend eine Ersatzerbfolge bei Wegfall des Schlusserben, sind alle Umstände in und außerhalb der Testamentsurkunde heranzuziehen. Maßgeblich hierfür sind insbesondere die konkrete Lebenssituation und die konkrete Interessenslage der testierenden Ehegatten im Zeitpunkt der Errichtung des gemeinschaftlichen Testaments.
- Ist der bedachte Schlusserbe Stiefsohn des einen, wie auch einziger Abkömmling des anderen (vorverstorbenen) Ehegatten, ist es naheliegend, dass der Abkömmling des vorverstorbenen Schlusserben an dessen Stelle treten soll.
- Der Umstand, dass die Ehegatten nach dem Vorversterben des Schlusserben keine neue Schlusserbenbestimmung getroffen haben, stellt kein zwingendes Indiz für den Willen der Ehegatten dar, dass sie bewusst von einer Anordnung einer Ersatzerbfolge abgesehen haben.
OLG München, Beschluss vom 24.04.2017 - 31 Wx 128/17
BGB §§ 2069, 2270 Abs. 1 u. 2, 2271 Abs. 1 S. 2, 2289 Abs. 1 S. 2,
I. Einführung
Die Erblasserin war kinderlos verheiratet. Ihr Ehegatte war bereits vorverstorben. Aus der ersten Ehe ihres vorverstorbenen Ehemannes ging ein ebenfalls bereits vorverstorbenes Kind hervor. Der Beteiligte zu 3) ist dessen Sohn.
Die Erblasserin hatte zwei Geschwister. Eine vorverstorbene Schwester, deren Abkömmlinge die Beteiligten zu 1) und 4) sind, sowie einen Bruder, den Beteiligten zu 2).
Es liegen folgende letztwillige Verfügungen der Erblasserin vor:
Ein vom Ehemann geschriebenes und von beiden unterschriebenes gemeinschaftliches Testament, mit folgenden Inhalt:
„Erbvertrag! Wir setzen uns gegenseitig als alleinige Erben in der Weise ein, daß der Überlebende Vollerbe sein soll. Wer Längstlebende von uns soll von meinem Sohn beerbt werden.“
Mit weiterem Testament aus dem Jahr 2007 setzte die Erblasserin die Beteiligten zu 1) und 2) zu Erben zu je 1/2 ein. Mit Testament aus dem Jahr 2016 bestimmte die Erblasserin die Beteiligte zu 1) zu ihrer Alleinerbin.
Das Nachlassgericht stellte die notwendigen Tatsachen für die Erteilung eines Alleinerbscheins entsprechend dem Antrag der Beteiligten zu 1) fest. Hiergegen wendet sich die Beschwerde des Beteiligten zu 3).
II. Problem
Die Beschwerde war nach Auffassung des OLG München in der Sache erfolgreich. Zu Unrecht sei das Nachlassgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass sich die Erbfolge nach dem von der Erblasserin errichteten Testament aus dem Jahr 2016 bestimmt.
Das Testament sei unwirksam, da es gegen die vom gemeinschaftlichen Testament ausgehende Bindungswirkung der dort getroffenen wechselbezüglichen Verfügungen verstößt (§§ 2270, 2271 Abs. 1 Satz 2 BGB) und das Recht des an die Stelle des weggefallenen (Schluss) Erben tretenden Ersatzerben (= Beteiligter zu 3) beeinträchtigen würde (vgl. § 2289 Abs. 1 Satz 2 BGB entsprechend). Demgemäß sei der Antrag der Beteiligten zu 1) auf Erteilung eines Alleinerbscheins zurückzuweisen.
Zutreffend sei das Nachlassgericht noch davon ausgegangen, dass die in dem gemeinschaftlichen Testament angeordnete Schlusserbeneinsetzung des Stiefsohnes der Erblasserin infolge dessen Vorversterbens hinfällig ist, und sich daher die Frage der Wechselbezüglichkeit einer (etwaigen) Ersatzerbfolge erst nach deren Feststellung stellt.
Die von dem Nachlassgericht herangezogenen Grundsätze des BGH (sog. Kumulationsverbot der Auslegungsregeln der § 2069 BGB und § 2270 Abs. 2 BGB) komme erst zum Tragen, sofern sich im Wege der Auslegung kein individueller Erblasserwille in Bezug auf eine Ersatzerbfolge im Falle des Wegfalls des eingesetzten Schlusserben feststellen lasse.
Eine ausdrückliche Ersatzerbeneinsetzung finde sich in dem gemeinschaftlichen Testament nicht. Sie ergebe sich jedoch im Wege individueller (ergänzender) Auslegung.
Durch ergänzende Testamentsauslegung könne die durch den Wegfall des Bedachten entstandene Lücke dann geschlossen werden, wenn die für die Zeit der Testamentserrichtung anhand des Testaments oder unter Zuhilfenahme von Umständen außerhalb des Testaments oder der allgemeinen Lebenserfahrung festzustellende Willensrichtung des Erblassers dafür eine genügende Grundlage biete (BGHZ 22, 357, 360; MüKo-BGB/Leipold § 2084 Rn. 95 m.w.N.). Nach der Willensrichtung des Erblassers im Zeitpunkt der Testamentserrichtung müsse anzunehmen sein, dass er die Ersatzerbeneinsetzung gewollt hätte, sofern er vorausschauend die spätere Entwicklung bedacht hätte. Stehe eine ergänzende Auslegung von wechselbezüglichen Verfügungen im Rahmen eines gemeinschaftlichen Testaments in Rede, sei nicht nur nach dem hypothetischen Willen des überlebenden Ehegatten zu fragen, sondern von der gemeinsamen bei der Testamentserrichtung bestehenden Willensrichtung der Ehegatten auszugehen (MüKo-BGB/Leipold a.a.O. Rn. 105).
Anhaltspunkte dafür, dass die Ehegatten bei Errichtung des gemeinschaftlichen Testaments an die Möglichkeit des vorzeitigen Wegfalls des eingesetzten Schlusserben gedacht haben, seien vorliegend nicht ersichtlich. Der Schlusserbe sei im Zeitpunkt der Errichtung des gemeinschaftlichen Testaments 34 Jahre alt gewesen. Insofern liege eine unbewusste Regelungslücke vor, die im Wege der ergänzenden Auslegung zu schließen sei.
Es sei daher zu prüfen, was die Erblasser gewollt hätten, wenn sie das Vorversterben des Schlusserben, des Vaters des Beschwerdeführers, bedacht hätten. Insofern teilte der Senat nicht die Auffassung des Nachlassgerichts, dass sich keine Willensrichtung der Ehegatten dergestalt feststellen lässt, dass anstelle des weggefallenen Schlusserben dessen Abkömmling (der Enkel des vorverstorbenen Ehemannes der Erblasserin) treten soll.
Hier würden sich aus der damaligen Lebenssituation und Interessenlage der Ehegatten tragfähige Anhaltspunkte ergeben, die den Schluss auf einen Willen für eine Ersatzberufung des Beschwerdeführers rechtfertigen:
Aus der Ehe der Ehegatten seien keine Abkömmlinge hervorgegangen. Sie hätten für den Fall, dass die Ehefrau Letztversterbende ist, den Sohn des Ehemannes aus erster Ehe als ihren Rechtnachfolger bestimmt und damit die Verwandten der Ehefrau von der Erbfolge ausgeschlossen. Der als Schlusserbe bestimmte Sohn des Ehemannes sei dessen einziger Abkömmling wie auch der Beschwerdeführer, der im Zeitpunkt der Testamentserrichtung bereits geboren war, wiederum dessen einziger Abkömmling sei. Das von den Ehegatten bewohnte Wohnhaus sei 3 Jahre vor Niederlegung des Testaments errichtet worden und stehe im Alleineigentum des Ehemannes. Es sei naheliegend, dass die Ehegatten dieses als Kern des Vermögens des Ehemannes angesehen haben. Indem der Ehemann, wie geschehen, seine Ehefrau zur Alleinerbin einsetzt, übergehe und enterbt er seinen einzigen Sohn, denn seine eigene Schlusserbeinsetzung werde im Fall seines Vorversterbens gegenstandslos. Insofern werde einerseits die Ehefrau zu deren Lebzeiten durch den vorverstorbenen Ehemann in wirtschaftlicher Hinsicht abgesichert, andererseits könne der Sohn nach Ableben der Ehefrau dennoch in den Genuss des (insoweit noch vorhandenen) Vermögens seines Vaters kommen.
In der Gesamtwürdigung dieser Umstände ergebe sich die Willensrichtung beider Ehegatten, dass das eheliche Vermögen im Stamm des Ehemannes verbleiben sollte. Bei Weiterentwicklung dieser Willensrichtung dränge sich der Schluss gerade zu auf, dass die Ehegatten im Zeitpunkt der Testamentserrichtung - die künftige Entwicklung vorausschauend - den Beschwerdeführer als Enkel und einzigen (weiteren) Abkömmling des Ehemannes der Erblasserin zum Schlusserben eingesetzt hätten, zumal dieser in diesem Zeitpunkt bereits geboren war.
Entgegen der Auffassung des Nachlassgerichts ergebe sich eine gegenteilige Willensrichtung der Ehegatten nicht zwingend aus dem Umstand, dass der ursprünglich Bedachte bereits zu Lebzeiten beider verstorben war und sie im Nachgang dazu keine neue Bestimmung des Schlusserben getroffen haben. Naheliegender sei vielmehr, dass die Ehegatten als juristische Laien (vgl. Überschrift des gemeinschaftlichen Testaments „Erbvertrag“) es schlicht als eine Selbstverständlichkeit angesehen haben, dass der Beschwerdeführer als einziger Abkömmling und einziger Enkel des Ehemannes unmittelbar die erbrechtliche Stellung seines Vaters übernimmt, und sie insofern nach ihrer Vorstellung eine erneute, und damit ihre Willensrichtung (nur) klarstellenden Testierung nicht für erforderlich gehalten haben.
Die Formulierung „Erbvertrag“, die sich sowohl als Überschrift im gemeinschaftlichen Testament, als auch als Aufschrift auf dem Kuvert findet, in dem das Testament aufbewahrt wurde, lege den Schluss nahe, dass die Ehegatten im Zeitpunkt der Testamentserrichtung ihre jeweiligen Verfügungen als bindend angesehen haben, und so auch die Schlusserbeneinsetzung der Ehefrau zugunsten des Stiefsohnes bindend sein sollte. Im Übrigen lege auch die damalige Lebenssituation und Interessenlage (s.o.) die wechselseitige Abhängigkeit der Einsetzung des Sohnes ihres Ehemannes durch die Erblasserin im Gegenzug zu ihrer Einsetzung als Alleinerbin nahe. Demgemäß lasse sich eine Willensrichtung der Ehegatten im Zeitpunkt der Testamentserrichtung betreffend eine Bindung der Ehefrau in Bezug auf die Schlusserbeneinsetzung des Sohnes des Ehemannes feststellen. Insofern sei der Schluss naheliegend, dass für die Ehegatten im Zeitpunkt der Testamentserrichtung die Ersatzberufung des Beschwerdeführers durch die Ehefrau ebenfalls bindend sein sollte, sofern sie den Wegfall des ursprünglich Bedachten vorhergesehen hätten. Im Übrigen würde auch die Auslegungsregel des § 2270 Abs. 2 BGB greifen.
Das Kumulationsverbot der Auslegungsregeln der §§ 2069, 2270 Abs. 2 BGB komme bereits deswegen nicht zum Tragen, da die Berufung des Beschwerdeführers als Ersatzerbe sich nicht aus der Anwendung des § 2069 BGB, sondern im Wege der individuellen Auslegung ergibt.
III. Fazit
Die Entscheidung des OLG München beschäftigt sich mit der Auslegung eines gemeinschaftlichen Testaments, insbesondere mit der ergänzenden Auslegung bzgl. einer Ersatzerbeneinsetzung.
Das Gericht stellt hierzu fest, dass, wenn der bedachte Schlusserbe der Stiefsohn des einen Ehegatten, wie auch einziger Abkömmling des anderen Ehegatten ist, es naheliegend ist, dass der Abkömmling des vorverstorbenen Schlusserben an dessen Stelle treten soll.
Das Gericht musste in seiner Entscheidung weder auf die Vermutung des § 2069 BGB, noch auf die des § 2070 Abs. 2 BGB zurückgreifen. In der Folge kam das Kumulationsverbot bzgl. der Anwendung der beiden Normen nicht zum tragen.
Rezension des Beschlusses des OLG München v. 24.04.2017 - 31 Wx 128/17 „Ersatzerbfolge / Wegfall des Schlusserben / Ermittlung des gemeinsamen Willens", in: FuR - Familie und Recht - Zeitschrift für Fachanwalt und Familiengericht, Nr.7 Juli 2017, S.405 ff