Erbverzicht, Sittenwidrigkeit
Leitsatz:
Die Sittenwidrigkeit eines Erbverzichts und damit dessen Unwirksamkeit kann sich aus der gebotenen Gesamtwürdigung mit der dem Verzicht zugrunde liegenden schuldrechtlichen Vereinbarung ergeben. Das ist insbesondere der Fall, wenn die getroffenen Vereinbarungen ein erhebliches Ungleichgewicht zulasten des Verzichtenden ausweisen.
OLG Hamm, Urteil vom 08.11.2016 - 10 U 36/15
BGB § 138 Abs.1, § 2346, § 2347
ZPO § 513 Abs.1
I. Einführung
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit eines Erb- und Pflichtteilsverzichts, den der Kläger mit notarieller Urkunde gegenüber dem Beklagten erklärt hat.
Der 1995 geborene Kläger ist ein Sohn des Beklagten aus dessen Ehe mit der Mutter des Klägers, die nur von kurzer Dauer war und bereits 1997 geschieden wurde. Der Kläger ist bei seiner Mutter aufgewachsen. Der Beklagte lebt mit seiner langjährigen Lebensgefährtin und einer aus dieser Beziehung stammenden Tochter zusammen. Er ist selbstständig praktizierender Zahnarzt und Gesellschafter einer GmbH, die ein Dentallabor betreibt. Anfang 2013 bot er dem Kläger, der zu diesem Zeitpunkt die 11. Klasse eines Gymnasiums besuchte und mit erheblichen Schulschwierigkeiten zu kämpfen hatte, an, bei der GmbH eine Ausbildung zum Zahntechniker zu machen. Im Januar 2013 absolvierte der Kläger ein Praktikum bei der GmbH. Während dieser Zeit lebte er im Haushalt des Beklagten. Im Sommer 2013 verließ er die Schule, ohne das angestrebte Fachabitur erreicht zu haben. Er zog zu dem Beklagten und begann bei der GmbH eine Ausbildung zum Zahntechniker. Etwa zur gleichen Zeit erwarb der Beklagte von einem Bekannten einen Sportwagen (Anschaffungspreis 100.000 €), für den sich der Kläger besonders begeistert hatte. Der Beklagte ließ den Kläger mehrfach in diesem Fahrzeug mitfahren und dieses auch einige Male selbst lenken, was den Kläger außerordentlich faszinierte.
Zwei Tage nach dem 18. Geburtstag des Klägers, fuhr der Beklagte mit dem Kläger zu einem Notar. Dort ließen die Parteien einen im Auftrag des Beklagten vorbereiten „Erb-, Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsanspruchsverzicht“ beurkunden, in dem es auszugsweise heißt:
„Als Gegenleistung für die Verzichte erhält der Erschienene zu 2. den Pkw (Sportwagen), jedoch unter der aufschiebenden Bedingung, dass der Erschienene zu 2. sein 25. Lebensjahr vollendet hat, seine Gesellenprüfung zum Zahntechniker bis zum 31.12.2017 mit der Note 1 bestanden hat und seine Meisterprüfung zum Zahntechniker bis zum 31.12.2021 mit der Note 1 bestanden hat.“
Schon am Nachmittag nach der Beurkundung reute den Kläger der Vertragsschluss. Er teilte dem Notar telefonisch mit, dass er die Vereinbarung rückgängig machen wolle. Mit Anwaltsschriftsatz teilte der Kläger dem Beklagten mit, dass er die Vereinbarung für sittenwidrig und damit nichtig halte. Vorsorglich erklärte er zudem die Anfechtung des Vertrages und forderte den Beklagten vergeblich auf, die Nichtigkeit des Vertrages anzuerkennen.
Mit der Klage hat der Kläger die Feststellung der Nichtigkeit des notariellen Vertrages begehrt. Er hat behauptet, der Beklagte habe ihn mit dem Vertrag überrumpelt. Bei dem Notar habe er dann den Vertrag unterschreiben sollen, von dem er zuvor keinen Entwurf erhalten habe. Den Inhalt und die Bedeutung des Vertrages habe er nicht vollständig verstanden, der Notar habe die Bedeutung auch nicht hinreichend erklärt. Das Ziel des Beklagten sei von Anfang an gewesen, seine jugendliche Unerfahrenheit auszunutzen und ihn mit der Aussicht auf sein Traumauto zu blenden, um von ihm eine Erklärung zu erschleichen, die er bei verständiger Würdigung der Situation nicht abgegeben hätte.
Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Er hat bestritten, den Kläger mit dem Vertrag überrumpelt zu haben. Er habe dem Kläger mehrfach vor der Beurkundung erklärt, wenn er ihm das Fahrzeug schenke, sei das ein vorweggenommenes Erbe. Mit einer solchen Schenkung müssten dann auch alle Erb- und Pflichtteilsansprüche des Klägers erledigt sein. Damit habe sich der Kläger einverstanden erklärt. Er habe dies auch richtig verstanden und gegenüber anderen Zeugen genau so erläutert. Er habe auch den Zweck der Fahrt gekannt. Er habe gewusst, dass dort nun der bereits besprochene Vertrag geschlossen werden sollte. Der Notar habe ihn ausführlich über die rechtliche und wirtschaftliche Bedeutung des Vertrages belehrt und ihm erläutert, dass er außer dem Wagen nichts mehr aus dem Erbe des Beklagten erhalten werde. Ziel des Vertrages sei es nicht gewesen, den Kläger zu übervorteilen, sondern ihn zu motivieren, seine Ausbildung und sein Leben zielstrebig und eigenverantwortlich in die Hand zu nehmen und fleißig und erfolgreich zu sein.
Das Landgericht hat nach Anhörung der Parteien und Beweiserhebung durch Vernehmung von Zeugen die Nichtigkeit des Notarvertrages festgestellt. Nach einer Gesamtwürdigung des Inhalts, Beweggrundes und Zwecks des Vertrages sei dieser sittenwidrig.
Hiergegen richtet sich die Berufung des Beklagten, der geltend macht, das Landgericht habe die Voraussetzungen der Sittenwidrigkeit verkannt und nicht beachtet, dass ein Erbverzicht auch ohne jede Abfindung wirksam vereinbart werden könne, weshalb eine Sittenwidrigkeit des Verzichts nur in seltenen Ausnahmefällen angenommen werden könne. Ein solcher Ausnahmefall sei hier nicht gegeben.
II. Problem
Die Berufung des Beklagten wurde vom OLG Hamm als zulässig, aber nicht begründet erachtet. Das Landgericht habe rechtsfehlerfrei festgestellt, dass der notarielle Erb-, Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsverzicht gemäß § 138 Abs.1 BGB sittenwidrig und damit nichtig ist.
Folge die Sittenwidrigkeit nicht schon allein aus dem Inhalt des Geschäfts, könne sie sich aus einer zusammenfassenden Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck des Rechtsgeschäfts, sowie der äußeren Umstände, die zu seiner Vornahme geführt haben ergeben (std. Rspr., vgl. etwa Palandt/Ellenberger, § 138 BGB Rn.8). Subjektiv sei weder das Bewusstsein der Sittenwidrigkeit, noch eine Schädigungsabsicht erforderlich, es genüge vielmehr, wenn der Handelnde die Tatsachen kennt, aus denen die Sittenwidrigkeit folgt. Dem stehe es gleich, wenn er sich der Erkenntnis einer erheblichen Tatsache bewusst oder grob fahrlässig verschließt.
Zu beachten sei, dass es sich bei dem Erbverzicht um ein abstraktes erbrechtliches Verfügungsgeschäft handelt, das unmittelbar den Verlust des gesetzlichen Erbrechts und des Pflichtteilsrechts bewirkt. Als Verfügungsgeschäft sei der Erbverzicht an sich grundsätzlich wertneutral (vgl. MüKo/Wegerhoff, § 2346 Rn.35 b). Hiervon zu unterscheiden sei das dem Erbverzicht zugrundeliegende Kausalgeschäft. Werde der Erbverzicht gegen eine Abfindung erklärt, liegt ihm ein schuldrechtliches Rechtsgeschäft zugrunde, das einerseits den Rechtsgrund für den Erbverzicht und andererseits den Rechtsgrund für die Abfindung bilde.
Erbverzicht und Abfindungsvereinbarung seien im Grundsatz selbstständige Rechtsgeschäfte. Sie könnten nach dem Parteiwillen aber als ein einheitliches Rechtsgeschäft im Sinne des § 139 BGB verknüpft sein, mit der Folge, dass eine etwaige Unwirksamkeit der Abfindungsvereinbarung auch den Erbverzicht erfasst. Voraussetzung sei, dass, nach dem durch Auslegung zu ermittelnden Geschäftswillen der Parteien, beide Geschäfte miteinander „stehen und fallen sollen“ (vgl. MüKo/Wegerhoff, § 2346 BGB Rn.21 und 27, m. w. N.).
Diese Voraussetzung sei vorliegend erfüllt. Werden Erbverzicht und Abfindungsvereinbarung - wie hier - in einer Urkunde aufgenommen, spreche nach herrschender Meinung eine tatsächliche Vermutung für einen solchen Verknüpfungswillen (vgl. BeckOK/Litzenburger, § 2346 BGB Rn.36; MüKo/Wegerhoff, § 2346 BGB Rn. 27; OLG Bamberg, OLGR 1998, 169). In diesem Fall könne sich eine Unwirksamkeit des Verzichts nach § 138 Abs.1 BGB aus dem Gesamtcharakter der dem Verzicht zugrundeliegenden schuldrechtlichen Vereinbarung ergeben.
Die demnach gebotene Gesamtwürdigung der dem Erbverzicht zugrundeliegenden Vereinbarungen führe hier zu dem Verdikt der Sittenwidrigkeit.
Zunächst würden die in dem Vertrag getroffenen Vereinbarungen ihrem Inhalt nach ein erhebliches Ungleichgewicht zulasten des Verzichtenden ausweisen. Dieses Ungleichgewicht resultiere in erster Linie daraus, dass der Erbverzicht mit sofortiger Wirkung und unbedingt vereinbart ist, während die Gegenleistung unter drei kumulativ zu erfüllende Bedingungen gestellt ist.
Die Bedingungen für die Gegenleistung würden zudem auch für sich betrachtet inhaltlich auf Bedenken stoßen:
Der Wert des als Gegenleistung für den Erbverzicht versprochenen Fahrzeuges sei durch die mit der ersten Bedingung gesetzte zeitliche Komponente aufgrund des in der Zwischenzeit unweigerlich eintretenden Wertverlustes erheblich reduziert.
Richtig sei auch, dass die beiden weiteren Bedingungen für den Erhalt des Fahrzeugs geeignet waren, den Kläger in zu missbilligender Weise in der Wahl seines beruflichen Werdeganges einzuschränken Die Bedingungen würden eine knebelnde Wirkung entfalten, die einen unzulässigen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des noch jugendlichen Klägers darstellen. Verschärft werde die hierdurch erzeugte Druckwirkung noch dadurch, dass die Bedingung nur bei Erreichen der Bestnote bei den Abschlussprüfungen erfüllt sein soll.
Im Vordergrund stehender Beweggrund und Zweck des Rechtsgeschäfts sei für den Beklagten die Erlangung des Erbverzichts zur Erweiterung seiner Testierfreiheit gegen eine verhältnismäßig geringe Abfindung und gegebenenfalls sogar ohne jegliche Gegenleistung gewesen. Dies folge erkennbar aus der dargestellten Vertragsgestaltung, die unstreitig auf einseitigen Vorgaben des Beklagten beruht. Den Erbverzicht mit sofortiger Wirkung und ohne jede Bedingung zu vereinbaren und allein die Abfindung von der Erfüllung strikter Vorgaben abhängig zu machen, zeigt nach der Überzeugung des Senats deutlich, dass der Beklagte bei diesem Rechtsgeschäft in erster Linie seine eigenen Ziele und Vorstellungen im Blick hatte und nicht das Wohl seines Sohnes.
Für eine Sittenwidrigkeit der getroffenen Vereinbarungen würden schließlich besonders deutlich die äußeren Umstände des Geschäftes sprechen. Hiernach habe der Beklagte nämlich die jugendliche Unerfahrenheit und Beeinflussbarkeit seines Sohnes zu seinem Vorteil ausgenutzt.
Dies folge schon aus der Wahl des Gegenstandes der in Aussicht gestellten Abfindung. Hier hat sich der Beklagte ersichtlich zielgerichtet die alters- und persönlichkeitsbedingte nahezu fanatische Begeisterung des Klägers für den Sportwagen zu Nutze gemacht.
Weitere entscheidende Gesichtspunkte seien der Zeitpunkt des Geschäftes, zwei Tage nach dem 18. Geburtstag des Klägers, sowie die näheren Umstände der Beurkundung. Der Beklagte habe für sein Vorhaben bewusst den Eintritt der Volljährigkeit des Klägers abgewartet, wohlwissend, dass er eine Zustimmung zu dem Geschäft von Seiten der Mutter des Klägers nicht erlangt hätte. Zum anderen habe er mit der Wahl des Beurkundungstermins den Eindruck erweckt, es handele sich um ein Geburtstagsgeschenk für den Kläger. Diese Vorgehensweise sei geeignet gewesen, dem Kläger eine Ablehnung des Angebotes emotional zu erschweren. Zudem habe der Beklagte den Kläger nicht in die Vorbereitung des Beurkundungstermins mit einbezogen. Einen Entwurf der nach seinen Vorgaben gestalteten Vereinbarung habe er dem Kläger unstreitig nicht gezeigt und erläutert.
Die vom Beklagten behaupteten Erläuterungen im Vorfeld seien nicht geeignet gewesen, dem Kläger das in Wahrheit beabsichtigte Geschäft zu erläutern, sondern im Gegenteil eher geeignet, den wahren Charakter des beabsichtigten Rechtsgeschäfts zu verschleiern und zu beschönigen.
Die subjektiven Voraussetzungen des § 138 Abs.1 BGB seien ebenfalls erfüllt. Der Beklagte habe alle aufgezeigten Tatsachen, aus denen die Sittenwidrigkeit des Erbverzichts folgt, gekannt.
Nach alledem sei die Feststellung des Landgerichts, der Erbverzichtsvertrag sei sittenwidrig und damit nichtig, nicht zu beanstanden.
III. Fazit
Die beachtenswerte Entscheidung des OLG Hamm bedeutet für die Praxis eine Steigerung der Rechtsunsicherheit bei der Gestaltung von Erb-, Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsanspruchsverzicht.
Obwohl ein solcher Verzicht auch ohne jegliche Abfindung möglich ist, urteilte das OLG Hamm im Sinne einer Sittenwidrigkeit des Rechtsgeschäfts.
Zukünftig muss bei der Gestaltung ein besonderes Augenmerk auf den Gegenstand der Zuwendung, den Zeitpunkt der Vereinbarung und etwaige Bedingungen und ihre Bedeutung für die Lebensgestaltung des Verzichtenden gelegt werden. Daneben empfiehlt sich eine frühzeitige Information des Verzichtenden bezüglich des Inhalts und der Bedeutung der Vereinbarung.
Rezension des Urteils des OLG Hamm v. 08.11.2016 - 10 U 36/15 „Erbverzicht / Sittenwidrigkeit", in: FuR - Familie und Recht - Zeitschrift für Fachanwalt und Familiengericht, Nr.4 April 2017, S.225 ff