Ausschlagung; Anfechtung; Rechtsfolgenirrtum
Leitsätze:
- Ein zur Anfechtung berechtigender Inhaltsirrtum im Sinne des § 119 BGB kann darin liegen, dass der (auch rechtskundig beratene) Erklärende über Rechtsfolgen seiner Willenserklärung irrt, weil das Rechtsgeschäft nicht nur die von ihm erstrebten Rechtswirkungen, sondern wesentlich andere als die beabsichtigten Wirkungen erzeugt.
- Bei einer „lenkenden“ Ausschlagung kann der Erklärende wegen Inhaltsirrtums anfechten, wenn das Verfehlen des Lenkungsziels (hier: Konzentration der Erbenstellung bei der Ehefrau des Erblassers, um über den Wegfall der ausschlagenden Personen als Erben die wirtschaftliche Lage eines Berliner Testaments herstellen, das zu errichten zu Lebzeiten der Eheleute unterblieben war) darauf beruht, dass die Erbschaft bei einer anderen Person, als beabsichtigt (hier: Bruder des Erblassers), eintritt.
- Zur Notwendigkeit einer Zurückverweisung an das Ausgangsgericht gemäß § 69 Abs. 1 Satz 2 FamFG wegen unterbliebener Hinzuziehung eines nach Auffassung des Beschwerdegerichts möglichen gesetzlichen Miterben zum Erbscheinsverfahren.
OLG Düsseldorf (3. Zivilsenat), Beschluss vom 12.03.2019 - I-3 Wx 166/17
BGB §§ 119 Abs. 1, Var. 1, 1945 Abs. 1, 1953 Abs. 1 u. 2, 1954 Abs. 1 u. 2 S. 1, 1955, 1957, 1643 Abs. 2 S. 2
FamFG §§ 69 Abs. 1 S. 2, 70 Abs. 2 S. 1, 345 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 u. S. 2
GNotKG §§ 36 Abs. 1, 40 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 u. S. 2, 61 Abs. 1 S. 1
I. Einführung
Der Erblasser, der nicht letztwillig verfügt hatte, hinterließ seine Ehefrau, die Mutter der Beteiligten, sowie zwei Kinder, die Beteiligte und deren Bruder, ferner als Geschwister einen Bruder.
Die Beteiligte und ihr Bruder schlugen, für sich selbst sowie jeweils gemeinsam mit ihrem Ehepartner, für ihren Sohn, die Erbschaft nach dem Erblasser aus. Der Erklärungstext als solcher beschränkte sich je auf die Formulierung: „Wir schlagen aus allen erdenklichen Gründen die Erbschaft hiermit aus.“
Am selben Tage wurde ein Erbscheinsantrag beurkundet, mit dem die Ehefrau des Erblassers die Erteilung eines sie als Alleinerbin nach dem Erblasser ausweisenden Erbscheins begehrte. Das Nachlassgericht wandte sich an den beurkundenden Notar und teilte diesem mit, dass nach der Ausschlagung der Erben der ersten Ordnung die Erben der 2. Ordnung in Betracht kommen (Eltern und Geschwister des Verstorbenen).
Sodann teilte die Beteiligte dem Nachlassgericht mit, dass Ziel der Beratung durch den Notar war, zu erreichen, dass ihre Mutter zunächst alleinige Erbin wird, ihr Bruder und sie selbst die Möglichkeit der Geltendmachung von Pflichtteilsansprüchen erhalten, und ihnen der gesamte Nachlass nach dem Tod der Mutter zufällt. Der Notar habe den Weg der Erbausschlagung durch die Kinder und Enkelkinder als Lösung empfohlen. Das Vorhandensein eines Bruders des Erblassers sowie seiner Söhne würde kein Problem darstellen.
Nun hätten sie Kenntnis davon erhalten, dass durch die gewählte Lösung keineswegs der gesamte Nachlass ihrer Mutter zufalle, sondern durch die Ausschlagung auch der Bruder des Vaters zu einem Viertel erbberechtigt wurde. Im Rahmen der daraufhin eingeholten Beratung hätten sie daneben festgestellt, dass sie durch die Ausschlagung des gesetzlichen Erbrechts zudem selbst von Pflichtteilsansprüchen ausgeschlossen sind.
Die Beteiligte erklärte daher sowohl für die in ihrem Namen, als auch für die namens ihres minderjährigen Kindes abgegebene Erklärung die Anfechtung der Ausschlagung der Erbschaft wegen Irrtums.
Gestützt auf diese Anfechtung, hat die Beteiligte einen (gemeinschaftlichen) Erbschein beantragt, der ihre Mutter und sie als gesetzliche Miterbinnen zu je ½ Anteil ausweist.
Diesen Antrag hat das Nachlassgericht durch die angefochtene Entscheidung zurückgewiesen, da die Beteiligte ihre Erbausschlagung nicht wirksam angefochten habe, da sie sich in einem unbeachtlichen Motivirrtum befunden habe.
Gegen diesen Beschluss wendet sich die Beteiligte mit ihrer Beschwerde. Das Nachlassgericht hat dieser nicht abgeholfen.
II. Problem
Das OLG Düsseldorf erachtete die Beschwerde als statthaft, insgesamt zulässig und auch in der Sache als erfolgreich.
Der Erbscheinsantrag der Beteiligten könne nicht mit der vom Nachlassgericht gegebenen Begründung zurückgewiesen werden. Nach bisheriger Aktenlage sei die Wirksamkeit der Anfechtung ihrer Erklärung der Erbausschlagung zu bejahen. Schon deshalb könne ihrem Erbscheinsantrag zu entsprechen sein.
Die Ausschlagungserklärung lasse nicht ansatzweise erkennen, welche Erwägungen ihr zugrunde liegen, noch weniger, dass sie unter einer Bedingung hätte stehen sollen. Angesichts dessen könne dahinstehen, ob die Ausschlagung mit der Bedingung versehen werden hätte können, sie solle nur erklärt sein, falls durch sie die Ehefrau des Erblassers (gesetzliche) Alleinerbin werde.
Es komme entscheidend auf das Vorliegen eines Anfechtungsgrundes an. Entgegen der Ansicht des Nachlassgerichts liege nach dem Vorbringen der Beteiligten ein Inhaltsirrtum nach § 119 Abs. 1, 1. Fall BGB vor.
Dabei könne dahinstehen, ob ein danach gegebener Irrtum über das Bestehen eines Pflichtteilsrechts einen beachtlichen Anfechtungsgrund bildet. Jedenfalls habe sich die Beteiligte, ihrem Vorbringen zufolge, in dem Irrtum befunden, dass die Ausschlagungserklärungen bewirken würden, dass ihre Mutter gesetzliche Alleinerbin nach dem Erblasser werde.
Das Verfehlen der Alleinerbenstellung der Mutter begründe einen Inhaltsirrtum.
Sei ein Rechtsirrtum beachtlich, ändert sich daran nicht dadurch etwas, dass er von einem Rechtskundigen verursacht wurde (BeckOGK BGB - Heinemann, § 1954 Rdnr. 20 m.w.N.).
Ein Inhaltsirrtum im Sinne von § 119 BGB könne darin gesehen werden, dass der Erklärende über Rechtsfolgen seiner Willenserklärung irrt, weil das Rechtsgeschäft nicht nur die von ihm erstrebten Rechtswirkungen erzeugt, sondern solche, die sich davon unterscheiden. Ein derartiger Rechtsirrtum berechtige nach ständiger Rechtsprechung nur dann zur Anfechtung, wenn das vorgenommene Rechtsgeschäft wesentlich andere als die beabsichtigten Wirkungen erzeugt. Dagegen sei der nicht erkannte Eintritt zusätzlicher oder mittelbarer Rechtswirkungen, die zu den gewollten und eingetretenen Rechtsfolgen hinzutreten, kein Irrtum über den Inhalt der Erklärung mehr, sondern unbeachtlicher Motivirrtum (BGH NJW 2016, 2954 ff; BGHZ 168, 210 ff).
Gemäß § 1953 Abs. 1 BGB bewirke die Ausschlagung, dass der Ausschlagende rückwirkend als Erbe „wegfällt“. Gemäß § 1953 Abs. 2 BGB falle die Erbschaft mit Rückwirkung dem Nächstberufenen an. Nach Auffassung des Senats erschließe sich bereits nicht, weshalb die zweitgenannte Wirkung lediglich eine zusätzliche oder gar mittelbare sein soll: Da es keinen erbenlosen Nachlass geben könne, würden Wegfall und Anfall als solche in einem unlösbaren Zusammenhang stehen, bildlich gesprochen, würden beide Wirkungen zwei Seiten derselben Medaille darstellen, und allein die Bestimmung im bezeichneten zweiten Absatz der Norm, an wen der Anfall erfolgt, mache weder den Anfall selbst, noch die Begünstigung einer bestimmten Person zu einer nachrangigen Folge. Zumindest aber könne bei der Bestimmung des Vorliegens eines Irrtums als einer subjektiven Gegebenheit und daher bei der Bestimmung der Wesentlichkeit einer Rechtswirkung nicht unbeachtet bleiben, auf welche Rechtswirkung es dem Erklärenden ankam. Diesem steht es frei, bei seiner Ausschlagung den Anfall, und zwar an eine bestimmte Person, die er sich eben als Berufene vorstellt, als das Primäre und seinen Wegfall als bloßes Mittel zu diesem Zweck zu erachten. Das möge nicht der Regelfall sein und je nach Sachverhalt möge es auch für das Nachlassgericht nicht einfach sein, einen derartigen Willen hinreichend verlässlich festzustellen. Dies rechtfertige es aber nicht, zum Ersten die in § 1953 BGB angeordneten Wirkungen als gestuft zu verstehen und es zum Zweiten dem Ausschlagenden zu versagen, an dieser Reihenfolge für seine Person etwas zu ändern (so aber, zumindest im Ergebnis: SchlHOLG ZEV 2005, 526 f; OLG Hamm FGPrax 2011, 236 f; wohingegen OLG München FamRZ 2009, 2119 einen Sonderfall betraf), letzteres etwa mit der Überlegung, ihm verbleibe statt der Ausschlagung die rechtssichere Möglichkeit einer Erbschafts- oder Erbteilsübertragung (so Heinemann a.a.O., Rdnr. 23).
Hier indes unterliege es keinem durchgreifenden Zweifel, dass allen Ausschlagenden und somit auch der Beteiligten in erster Linie an der Anfallswirkung gelegen war und sie sich den Wegfall ihrer Personen als bloßen Weg dorthin vorstellten, wobei sie auch einen anderen beschritten hätten, hätte er zum Ziel der Konzentration der Erbenstellung bei der Ehefrau des Erblassers geführt. Bei wirtschaftlicher Betrachtung hätten alle im Ergebnis die Lage eines Berliner Testaments herstellen wollen, das zu errichten zu Lebzeiten der Eheleute ersichtlich unterblieben war.
Die hier vertretene Sichtweise führe im Ergebnis dazu, dass bei einer „lenkenden“ Ausschlagung der Erklärende wegen Inhaltsirrtums anfechten könne, wenn das Verfehlen des Lenkungsziels darauf beruht, dass die Erbschaft bei einer anderen Person, als beabsichtigt, eintritt. Bereits der Entscheidung des Senats vom 21. September 2017 (I-3 Wx 173/17) habe als Ausgangspunkt die hier vertretene Ansicht zugrunde gelegen, doch sei es trotz der dort zugelassenen Rechtsbeschwerde zu einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs nicht gekommen.
Daneben gelange man im vorliegenden Fall zur Annahme eines Inhaltsirrtums, wenn man davon ausginge, die Beteiligte habe die Rechtswirkung des § 1953 Abs. 2 BGB überhaupt nicht gekannt und sich die Anwachsung ihres Erbteils bei ihrer Mutter vorgestellt, worin ein beachtlicher Rechtsirrtum liege (vgl. OLG Frankfurt FamRZ 2017, 1879 f); oder wenn man generell den Anfall bei einer anderen als der vom Ausschlagenden vorgestellten Person als Inhaltsirrtum ansieht (vgl. MüKo-Leipold, BGB, § 1954 Rdnr. 7; wohl auch Staudinger-Otte, BGB, § 1954 Rdnr. 6).
Auf diesen Grundlagen wurde die Sache an das Ausgangsgericht zurückverwiesen.
III. Fazit
Im Rahmen der Anfechtung der Ausschlagung einer Erbschaft stellt sich oftmals die Frage, ob auch die Tatsache, dass die Erbschaft in der Folge der Ausschlagung einer anderen als der vorgesehenen Person zufällt, einen zur Anfechtung berechtigenden Rechtsirrtum darstellt, oder ob lediglich ein unbeachtlicher Motivirrtum vorliegt, da die beabsichtigte Rechtsfolge, der Wegfall der eigenen Erbenstellung, eingetreten ist.
Das OLG Düsseldorf legt hier einen großzügigen Maßstab an und sieht den Wegfall der Erbenstellung des Anfechtenden und den Anfall bei einer anderen Person als rechtliche Einheit an. In der Folge kann der die Ausschlagung erklärende Erbe bei einer „lenkenden“ Ausschlagung, die Ausschlagungserklärung wegen Inhaltsirrtums anfechten, wenn das Verfehlen des Lenkungsziels darauf beruht, dass die Erbschaft bei einer anderen Person als eigentlich beabsichtigt, eintritt.
Rezension des Beschlusses des OLG Düsseldorf v. 12.03.2019 - I-3 Wx 166/17 „Ausschlagung/ Anfechtung / Rechtsfolgenirrtum", in: FuR - Familie und Recht - Zeitschrift für Fachanwalt und Familiengericht, Nr.9 September 2019, S.551 ff